Angst
vor dem Leben
Das innere Gefängnis steht
Fausthiebe und Tritte, würgen, kratzen, Handgelenk prellen, abquetschen desselbigen, gegen Türrahmen gestoßen. Mit Hammer und mit Fäusten in Magengegend (schwerer Hammer) geschlagen. Ich habe Blutergüsse auf und am: rechten Hüftknochen, rechten Ober- (5 mal 1 cm) und Unterarm (ca. 3,5 cm Durchmesser), am linken und am rechten Oberschenkel außen (links ca. 9-10 cm lang und tiefschwärzlich bis violett gefärbt, ca. 4 cm breit) sowie an beiden Schultern. Schürfungen und Kratzschnittwunden an den Oberschenkeln, der linken Wade.
I want once more in my life some happiness
And survive in the ecstasy of living
I want once more see a smile and a laughing for a while
I want once more the taste of someone's love
Tagebucheintrag, Januar 2006
ICH WAR 17, als mir der Täter eine Videokassette mit dem Film »Pleasantville« ins Verlies brachte. Er handelt von zwei Geschwistern, die in den 1990er Jahren in den USA aufwachsen. In der Schule sprechen die Lehrer von düsteren Jobaussichten, Aids und dem drohenden Weltuntergang durch den Klimawandel. Zu Hause streiten die geschiedenen Eltern am Telefon darüber, wer am Wochenende die Kinder übernehmen soll, und mit den Freunden gibt es auch nur Probleme. Der Junge flüchtet sich in die Welt einer Fernsehserie aus den 1950er Jahren: »Willkommen in Pleasantville! Moral und Anstand. Herzliche Begrüßungen: >Schatz, ich bin zu Hause!< Richtige Ernährung: >Wollt ihr noch Kekse?< Willkommen in der perfekten Welt von Pleasantville. Nur auf TV-Time!« In Pleasantville serviert die Mutter das Essen immer genau in dem Moment, wenn der Vater von der Arbeit nach Hause kommt. Die Kinder sind hübsch gekleidet und treffen beim Basketball immer den Korb. Die Welt besteht nur aus zwei Straßen, und die Feuerwehr hat nur eine einzige Aufgabe: Katzen von Bäumen zu holen - denn Feuer gibt es in Pleasantville nicht.
Nach einem Streit um die Fernbedienung landen die beiden Geschwister plötzlich in Pleasantville. Sie sind an diesem seltsamen Ort gefangen, in dem es keine Farben gibt und die Bewohner nach Regeln leben, die sie nicht nachvollziehen können. Wenn sie sich anpassen, sich in diese Gesellschaft integrieren, kann es sehr schön sein in Pleasantville. Doch als sie gegen Regeln verstoßen, wird aus den freundlichen Bewohnern ein wütender Mob.
Der Film schien mir wie eine Parabel auf das Leben, das ich führte. Für den Täter war die Außenwelt gleichbedeutend mit Sodom und Gomorrha, überall lauerten Gefahren, Schmutz und Laster. Eine Welt, die für ihn der Inbegriff dessen war, woran er scheiterte und von dem er sich - und mich - fernhalten wollte. Unsere Welt hinter den gelben Mauern, das sollte die von Pleasantville sein: »Noch ein paar Kekse?« - »Danke, Schatz.« Eine Illusion, die er immer wieder beschwor in seinem Gerede, dass wir es doch so schön haben könnten. In diesem Haus mit den blank polierten Oberflächen, die zu sehr glänzten, und mit den Möbeln, die an in ihrer Spießigkeit fast erstickten. Aber er arbeitete weiter an der Fassade, investierte in sein, in unser neues Leben, das er im nächsten Augenblick mit den Fäusten traktierte. In »Pleasantville« heißt es in einer Szene: »Nur was ich kenne, ist meine Realität.« Wenn ich heute durch mein Tagebuch blättere, erschrecke ich manchmal, wie gut ich mich in Priklopils Drehbuch mit all seinen Widersprüchlichkeiten eingepasst habe:
Liebes Tagebuch, es ist Zeit, dir mein Herz nun vollkommen und vorbehaltlos mit jedem Schmerz, den es erfahren musste, auszuschütten. Beginnen wir beim Oktober. Ich weiß nicht mehr genau, wie alles war, aber die Sachen, die waren, waren nicht sehr schön. Er hat die Brabant-Tujen eingepflanzt. Sie machen sich ganz gut. Ihm ging es zeitweise nicht gut, und wenn es ihm nicht gut geht, macht er mir das Leben zur Hölle. Immer, wenn er Kopfschmerzen hat und ein Pulver nimmt, bekommt er eine allergische Reaktion, und das bedeutet bei ihm sehr starkes Nasenrinnen. Aber er hat vom Arzt Tropfen zum Schlucken bekommen. Jedenfalls war es sehr schwer. Es kamen immer wieder unangenehme Szenen. Ende Oktober kam dann die neue Schlafzimmereinrichtung mit dem klingenden Namen Esmeralda. Die Decken, Polster und Matratzen kamen etwas früher. Alles selbstverständlich antiallergisch und auskochbar. Als das Bett da war, musste ich ihm helfen, den alten Kasten abzubauen. Das hat circa drei Tage in Anspruch genommen. Wir mussten die Teile zerlegen, die schweren Spiegeltüren rüber ins Arbeitszimmer tragen, die Seitenwände und Einlagebretter trugen wir hinunter. Dann gingen wir in die Garage und packten alle Kästen und einen Teil des Bettes aus. Das Mobiliar besteht aus zwei Nachtkästen mit je zwei Laden und goldenen Messinggriffen, zwei Kommoden, eine schmale hohe mit ... (abgebrochen.)
Goldene Messinggriffe, poliert von der perfekten Hausfrau, die nach den Kochrezepten seiner noch perfekteren Mutter das Essen auf den Tisch bringt. Wenn ich alles richtig machte und mich an meine Laufwege zwischen den Kulissen hielt, funktionierte die Illusion für einen Moment. Aber jede Abweichung von diesem Drehbuch, das mir keiner vorher zum Lesen gegeben hatte, wurde drakonisch bestraft. Seine Unberechenbarkeit wurde zu meinem größten Feind. Selbst wenn ich überzeugt war, alles gut gemacht zu haben, selbst wenn ich zu wissen glaubte, welche Requisite in einem Moment gebraucht wurde, war ich nicht vor ihm sicher. Ein Blick, zu lange auf ihn gerichtet, ein Teller auf dem Tisch, der gestern noch der richtige gewesen war, schon rastete er aus. Etwas später heißt es in meinen Notizen:
Brutale Fausthiebe auf den Kopf die rechte Schulter, den Bauch, den Rücken und das Gesicht sowie aufs Ohr und aufs Auge. Unkontrollierte, unberechenbare urplötzliche Wutanfälle. Anschreien, Beleidigungen. Stoßen beim Stufensteigen. Würgen, sich auf mich setzen und den Mund und die Nase zuhalten, ersticken. Auf meine Armgelenke setzen, auf meinen Armknöcheln knien, meine Arme mit den Fäusten abwürgen. An den Unterarmen habe ich fingerförmige Blutergüsse und eine Kratz- und Schürfwunde am linken Unterarm. Er setzte sich auf meinen Kopf oder schlug, auf meinem Rumpf kniend, meinen Kopf mit voller Wucht auf den Boden. Dies mehrmals und mit aller Kraft, so dass ich Kopfweh und Übelkeit verspürte. Dann unkontrollierter Fausthiebregen, mit Gegenständen werfen und brutal gegen das Nachtkasterl schlagen. (...)
Das Nachtkasterl mit den Messinggriffen.
Dann wieder gestattete er mir Dinge, die mir die Illusion vermittelten, es ginge um mich. Er erlaubte mir zum Beispiel, die Haare wieder wachsen zu lassen. Aber auch das war nur Teil der Inszenierung. Denn ich musste sie wasserstoffblond färben, um seinem Idealbild von einer Frau zu entsprechen: folgsam, arbeitsam, blond.
Ich verbrachte immer mehr Zeit oben im Haus, verwendete Stunden darauf, Staub zu wischen, aufzuräumen und zu kochen. Nach wie vor ließ er mich keine Sekunde allein. Sein Wunsch, mich völlig zu kontrollieren, ging so weit, dass er selbst die Klotüren im Haus aushängte: Nicht einmal für zwei Minuten sollte ich mich seinem Blick entziehen können. Seine dauernde Anwesenheit trieb mich zur Verzweiflung.
Aber auch er war ein Gefangener seines eigenen Drehbuchs. Wenn er mich ins Verlies sperrte, musste er mich versorgen. Wenn er mich ins Haus holte, war er jede Minute damit beschäftigt, mich zu kontrollieren. Die Mittel waren immer die gleichen. Doch der Druck auf ihn wurde stärker. Was, wenn auch hundert Schläge nicht mehr ausreichten, mich am Boden zu halten? Dann würde er auch in seinem Pleasantville scheitern. Und es gäbe kein Zurück mehr.
Priklopil war dieses Risiko bewusst. Deshalb tat er alles dafür, mir vor Augen zu führen, was mir drohte, sollte ich es wagen, seine Welt zu verlassen. Ich erinnere mich an eine Szene, in der er mich so demütigte, dass ich fluchtartig ins Haus zurückstürzte.
Eines Nachmittags arbeitete ich oben und bat ihn, ein Fenster zu öffnen - ich wollte einfach ein bisschen mehr Luft, eine Ahnung vom Vögelgezwitscher draußen. Der Täter fuhr mich an: »Das willst du doch nur, weil du schreien und weglaufen willst.«
Ich beschwor ihn, mir zu glauben, dass ich nicht fliehen würde: »Ich bleibe, ich verspreche es. Ich werde niemals weglaufen.«
Er blickte mich zweifelnd an, dann packte er mich am Oberarm und schleppte mich zur Haustür. Es war helllichter Tag, die Straße war menschenleer, trotzdem war sein Manöver riskant. Er öffnete die Tür und schubste mich hinaus, ohne den festen Griff an meinem Arm zu lockern. »Jetzt lauf doch! Geh nur! Schau doch, wie weit du kommst, so wie du aussiehst!«
Ich war starr vor Schreck und Scham. Ich hatte kaum etwas an und versuchte, mit meiner freien Hand notdürftig meinen Körper zu bedecken. Die Scham darüber, dass mich ein Fremder in meiner ganzen Magerkeit, mit all den Blutergüssen und den kurzen Stoppelhaaren auf dem Kopf sehen könnte, war größer als die leise Hoffnung, dass jemand diese Szene beobachten und sich darüber wundern könnte.
Er hat das ein paar Mal gemacht - mich nackt vor die Haustüre gestoßen und gesagt: »Lauf doch. Schau doch, wie weit du kommst.« Mit jedem Mal wurde die Welt draußen bedrohlicher. Ich geriet in einen massiven Konflikt zwischen meiner Sehnsucht, diese Außenwelt kennenzulernen, und der Angst vor diesem Schritt. Ich hatte über Monate darum gebettelt, kurz ins Freie zu dürfen, und immer wieder bekam ich zu hören: »Was willst du denn, du versäumst nichts, draußen ist es genauso wie hier drinnen. Außerdem schreist du, wenn du draußen bist, und dann muss ich dich umbringen.«
Er wiederum schwankte zwischen krankhafter Paranoia, Furcht vor der Entdeckung seines Verbrechens und den Vorstellungen von einem normalen Leben, in dem es zwangsläufig Ausflüge in die Außenwelt geben musste. Es war wie ein Teufelskreis, und je mehr er sich von seinen eigenen Gedanken in die Ecke gedrängt fühlte, umso aggressiver wandte er sich gegen mich. Wie schon früher setzte er dabei auf eine Mischung von physischer und psychischer Gewalt. Er trampelte erbarmungslos auf den letzten Resten meines Selbstbewusstseins herum und trichterte mir immer wieder die gleichen Sätze ein. »Du bist nichts wert, du musst mir dankbar sein, dass ich mich deiner angenommen habe. Niemand würde dich sonst wollen.« Er erzählte mir, dass meine Eltern im Gefängnis seien und niemand mehr in der alten Wohnung wäre. »Wohin willst du denn schon, wenn du wegläufst? Niemand will dich dort draußen haben. Du würdest reumütig zu mir zurückkriechen.« Und er erinnerte mich eindringlich daran, dass er jeden umbringen würde, der zufällig Zeuge eines Fluchtversuchs werden würde. Die ersten Opfer, erklärte er mir, seien wahrscheinlich die Nachbarn. Und dafür wolle ich doch sicher nicht die Verantwortung übernehmen, oder?
Er meinte seine Verwandten im Haus nebenan. Seit ich ab und zu in ihrem Pool geschwommen war, fühlte ich mich ihnen auf eine eigenartige Weise verbunden. Als wären sie es gewesen, die mir diese kleine Flucht aus dem Alltag im Haus ermöglicht hätten. Ich habe sie nie gesehen, aber am Abend, wenn ich oben im Haus war, hörte ich manchmal, wie sie ihre Katzen riefen. Die Stimmen klangen freundlich und besorgt. Nach Menschen, die sich liebevoll um die kümmern, die von ihnen abhängig sind. Priklopil versuchte, den Kontakt zu ihnen weitgehend zu minimieren. Sie brachten ihm manchmal einen Kuchen vorbei oder eine Kleinigkeit mit von einer Reise. Einmal war ich im Haus, als sie läuteten, und musste mich rasch in der Garage verstecken. Ich hörte ihre Stimmen, während sie mit dem Täter vor der Tür standen und ihm irgendetwas Selbstgemachtes übergaben. Er warf solche Sachen immer sofort weg - in seinem Hygienewahn hätte er niemals ein Stück davon gegessen, weil es ihn davor ekelte.
Als er mich zum ersten Mal nach draußen mitnahm, spürte ich keine Befreiung. Ich hatte mich so sehr darauf gefreut, mein Gefängnis endlich verlassen zu dürfen. Doch nun saß ich auf dem Beifahrersitz und war gelähmt vor Angst. Der Täter hatte mir genau eingeschärft, was ich sagen musste, wenn mich jemand erkannte: »Du musst erst tun, als wüsstest du nicht, wovon die Rede ist. Wenn das nichts hilft, sagst du: Nein, das ist eine Verwechslung. Und wenn dich jemand fragt, wer du bist, sagst du, du bist meine Nichte.« Natascha gab es schon lange nicht mehr. Dann ließ er den Wagen an und rollte aus der Garage.
Wir fuhren die Heinestraße in Strasshof entlang: Vorgärten, Hecken, dahinter Einfamilienhäuser. Die Straße war menschenleer. Mir klopfte das Herz bis zum Hals. Das erste Mal seit über sieben Jahren hatte ich das Haus des Täters verlassen. Ich fuhr durch eine Welt, die ich nur noch aus meiner Erinnerung kannte und von kurzen Videofilmen, die der Täter vor Jahren für mich gedreht hatte. Kleine Schnipsel, die Strasshof zeigten, ganz selten ein paar Menschen. Als er in die Hauptstraße einbog und sich in den Verkehr reihte, sah ich aus den Augenwinkeln einen Mann den Gehsteig entlanggehen. Er lief seltsam monoton, kein Innehalten, keine überraschende Bewegung, wie ein Spielzeugmännchen, das man am Rücken mit einer großen Flügelschraube aufgezogen hat.
Alles, was ich sah, wirkte unecht. Und wie schon beim ersten Mal, als ich mit zwölf Jahren nachts im Garten stand, erfassten mich Zweifel an der Existenz all dieser Menschen, die sich so selbstverständlich und unbeeindruckt durch eine Umgebung bewegten, die ich zwar kannte, die mir aber völlig fremd geworden war. Das helle Licht, in das alles getaucht war, wirkte, als käme es von einem riesigen Scheinwerfer. Ich war mir in diesem Moment sicher, dass der Täter das alles arrangiert hatte. Das war sein Filmset, seine große Truman-Show, die Leute waren alle Statisten, alles war nur inszeniert, um mir vorzugaukeln, dass ich draußen war. Während ich in Wirklichkeit nur in einer erweiterten Zelle gefangen blieb. Dass es mein eigenes, psychisches Gefängnis war, in dem ich steckte, habe ich erst später begriffen.
Wir verließen Strasshof, fuhren eine Weile über Land und hielten in einem kleinen Wald. Ich durfte kurz aus dem Auto aussteigen. Die Luft roch würzig nach Holz, und unter mir huschten Sonnenflecken über die trockenen Föhrennadeln. Ich ging in die Knie und legte vorsichtig eine Hand auf den Boden. Die Nadeln pieksten und hinterließen rote Pünktchen auf meinem Handballen. Ich ging ein paar Schritte zu einem Baum und legte die Stirn an die Rinde. Die rissige Borke war warm von der Sonne und verströmte einen intensiven Geruch nach Harz. Genauso wie die Bäume meiner Kindheit.
Auf dem Rückweg sagte keiner von uns ein Wort. Als der Täter mich in der Garage aus dem Auto ließ und mich ins Verlies sperrte, fühlte ich eine tiefe Traurigkeit in mir hochsteigen. Ich hatte mich so lange auf die Welt draußen gefreut, hatte mir in den schönsten Farben ausgemalt, wie sie sich anfühlen würde. Und nun bewegte ich mich durch sie wie durch eine Scheinwelt. Meine Realität war die Birkentapete in der Küche, das war die Umgebung, in der ich wusste, wie ich mich zu bewegen hatte. Hier draußen stolperte ich herum wie im falschen Film.
Dieser Eindruck legte sich langsam, als ich das nächste Mal rausdurfte. Der Täter war durch meine demütige, schreckhafte Haltung bei meinen ersten Gehversuchen außerhalb des Hauses mutiger geworden. Schon einige Tage später nahm er mich in den Drogeriemarkt des Ortes mit. Er hatte mir versprochen, dass ich mir dort etwas Schönes aussuchen durfte. Der Täter parkte das Auto vor dem Geschäft und zischte mir noch einmal zu: »Kein Wort. Sonst sterben alle da drin.« Dann stieg er aus, ging um den Wagen herum und hielt mir die Tür auf.
Ich ging vor ihm in das Geschäft hinein. Ich hörte ihn dicht hinter mir leise atmen und stellte mir vor, wie er die Hand in der Jackentasche um eine Pistole schloss, um alle zu erschießen, wenn ich nur eine einzige falsche Bewegung machte. Aber ich würde brav sein. Ich würde niemanden gefährden, ich würde nicht fliehen, ich wollte nichts als einen kleinen Schnipsel des Lebens erhaschen, das für andere Mädchen in meinem Alter selbstverständlich war: in einem Drogeriemarkt durch die Kosmetikabteilung zu gehen. Ich durfte mich zwar nicht schminken - der Täter gestattete mir ja nicht einmal normale Kleidung -, aber ein Zugeständnis hatte ich ihm abringen können. Zwei Artikel, die zu einem normalen Teenagerleben gehörten, durfte ich mir aussuchen. Wimperntusche war nach meiner Vorstellung ein unbedingtes Muss. Das hatte ich in den Mädchenzeitschriften gelesen, die er mir ab und zu ins Verlies brachte. Ich hatte die Seiten mit den Schminktipps wieder und wieder angesehen und mir dabei vorgestellt, wie ich mich selbst für meinen ersten Besuch in der Disco schönmachen würde. Lachend und prustend mit meinen Freundinnen vor dem Spiegel, erst in die eine Bluse schlüpfen, dann doch in die andere, sitzen die Haare? Kommt, wir müssen los!
Und da stand ich nun zwischen den langen Regalen mit unzähligen Fläschchen und Döschen, die ich nicht kannte, die mich magisch anzogen, aber gleichzeitig verunsicherten. Es waren so viele Eindrücke, ich wusste nicht wohin und hatte Angst, ich könnte etwas herunterwerfen.
»Los! Beeil dich!«, hörte ich die Stimme hinter mir. Ich nahm hastig ein Röhrchen mit Wimperntusche, dann suchte ich mir aus einem kleinen Holzregal mit Aromaölen ein Fläschchen Minzöl aus. Ich wollte es offen in mein Verlies stellen, in der Hoffnung, es würde den schimmligen Geruch überdecken. Die ganze Zeit über blieb der Täter dicht hinter mir. Es machte mich nervös, ich kam mir vor wie eine Verbrecherin, die noch nicht erkannt worden war, aber jederzeit auffliegen konnte. Ich bemühte mich, so kontrolliert wie möglich zur Kasse zu gehen. Eine dickliche Frau saß dahinter, wohl um die fünfzig Jahre alt, die grauen Locken etwas schief gewickelt. Als sie mich freundlich mit »Grüß Gott!« ansprach, zuckte ich zusammen. Es war das erste Wort, das ein Fremder seit über sieben Jahren an mich gerichtet hatte. Das letzte Mal, als ich mit jemand anderem als mit mir selbst oder dem Täter gesprochen hatte, war ich noch ein kleines, pummeliges Kind gewesen. Nun grüßte mich die Kassiererin wie eine echte, erwachsene Kundin. Sie sprach mich mit »Sie« an und lächelte, während ich stumm die beiden Artikel auf das Band legte. Ich war dieser Frau so dankbar, dass sie mich wahrnahm, dass ich tatsächlich existierte. Ich hätte stundenlang an der Kasse stehen bleiben können, einfach nur, um die Nähe eines anderen Menschen zu spüren. Sie um Hilfe zu bitten kam mir nicht in den Sinn. Der Täter stand, wie ich dachte bewaffnet, nur Zentimeter neben mir. Ich hätte diese Frau, die mir für einen kurzen Augenblick das Gefühl gegeben hatte, dass ich tatsächlich lebte, niemals in Gefahr gebracht.
In den nächsten Tagen nahmen die Misshandlungen wieder zu. Immer wieder sperrte mich der Täter wütend ein, immer wieder lag ich mit blauen Flecken auf meinem Bett und kämpfte mit mir selbst. Ich durfte mich nicht in meine Schmerzen fallen lassen. Ich durfte mich nicht aufgeben. Ich durfte dem Gedanken, dass diese Gefangenschaft das Beste war, was mir in meinem Leben widerfahren würde, keinen Raum geben. Ich musste mir immer wieder sagen, dass es kein Glück war, beim Täter leben zu dürfen, so wie er mir das immer wieder eingeredet hatte. Seine Sätze hatten sich um mich gelegt wie Fußangeln. Wenn ich vor Schmerzen gekrümmt im Dunkeln lag, wusste ich, dass er unrecht hatte. Aber das menschliche Gehirn verdrängt Verletzungen schnell. Schon am nächsten Tag gab ich mich allzu gerne wieder der Illusion hin, dass das alles nicht so schlimm sei, und glaubte seinen Beschwörungen.
Aber wenn ich jemals aus meinem Verlies herauskommen wollte, musste ich diese Fußangeln loswerden.
I want once more in my life some happiness
And survive in the ecstasy of living
I want once more see a smile and a laughing for a while
I want once more the taste of someone's love
Damals begann ich, mir selbst kleine Botschaften zu schreiben. Wenn man etwas schwarz auf weiß vor sich sieht, werden die Dinge greifbarer. Sie sind auf einer Ebene, der sich der Kopf schwerer entziehen kann, Wirklichkeit geworden. Ich notierte von nun an jede Misshandlung, nüchtern und ohne Emotionen. Ich habe diese Aufzeichnungen heute noch. Manches ist in einem einfachen Schülerblock im Format A5 eingetragen, in akkurater Schönschrift. Anderes habe ich auf ein grünes A4-Blatt geschrieben, die Zeilen dichtgedrängt. Damals wie heute erfüllen diese Notizen den gleichen Zweck. Denn selbst im Nachhinein sind mir die kleinen positiven Erlebnisse während meiner Gefangenschaft präsenter als die unglaubliche Grausamkeit, der ich jahrelang ausgesetzt war.
20. 8. 200$ Wolfgang schlug mich mindestens drei Mal ins Gesicht, stieß mir ca. 4 Mal das Knie ins Steißbein und einmal gegen das Schambein. Er zwang mich, vor ihm niederzuknien und bohrte mir einen Schlüsselbund in den linken Ellenbogen, wovon ich einen Bluterguss und eine Schürfwunde mit gelblichem Ausflusssekret davontrug.
Dann kommt noch Anschreien und Quälen dazu. Sechs Fausthiebe auf den Kopf.
21.8.2005 Morgens anbrummen. Beschimpfungen ohne Grund. Dann Schläge und übers Knie legen. Tritte und Puffe. Sieben Schläge ins Gesicht, ein Fausthieb auf den Kopf. Beschimpfungen und Schläge ins Gesicht, ein Fausthieb auf den Kopf. Beschimpfungen und Schläge, nur Frühstück ohne Müsli. Dann Dunkelhaft bei mir unten / ohne Aussprache / blöde ausspielerische Sprüche. Und einmal mit dem Finger kratzen am Zahnfleisch. Kinndrücken und Halswürgen.
22. 8. 2005 Fausthiebe auf den Kopf.
23. 8. 2005 Mindestens 60 Schläge ins Gesicht. 10-15 schwere Übelkeit verursachende Schläge mit der Faust auf den Kopf, vier Schläge mit der flachen brutalen Hand auf den Kopf, ein Fausthieb mit voller Wucht auf mein rechtes Ohr und Kiefer. Das Ohr färbt sich schwärzlich. Würgen, schweren Uppercut, dass der Kiefer knirschte, Knietritte ca. 70 Stück, vorwiegend ins Steißbein und auf den Po. Fausthiebe ins Kreuz und auf das Rückgrat, die Rippenbögen und zwischen die Brüste. Schläge mit dem Besen auf den linken Ellenbogen und den Oberarm (schwärzlich-brauner Bluterguss), sowie das linke Handgelenk. Vier Schläge ins Auge, so dass ich blaue Blitze sah. Uvm.
24. 8. 2005 Brutale Tritte mit dem Knie in Bauch und Genitalbereich (wollte mich zum Knien bringen). Sowie auf die untere Wirbelsäule. Schläge mit der Handfläche ins Gesicht, ein brutaler Fausthieb auf mein rechtes Ohr (schwarzblaue Verfärbung). Dann Dunkelhaft ohne Luft und Essen.
25. 8. 2005 Fausthiebe auf meine Hüftknochen und mein Brustbein. Dann vollkommen gemeine Beleidigungen. Dunkelhaft. Ich hatte den ganzen Tag nur sieben rohe Karotten und ein Glas Milch.
26. 8. 2005 Brutale Schläge mit der Faust auf die Vorderseite meiner Oberschenkel und auf meinen Po (Knöchel). Sowie schallende, brennende rote Pusteln zurücklassende Schläge auf Po, Rücken, seitlichen Oberschenkel, rechte Schulter und Achsel sowie Busen.
Der Horror einer einzigen Woche, von denen es unzählige gab. Manchmal war es so schlimm, dass ich so zitterte, dass ich den Stift nicht mehr halten konnte. Ich kroch wimmernd ins Bett, voller Angst, dass die Bilder des Tages mich auch in der Nacht einholen würden. Dann sprach ich mit meinem zweiten Ich, das auf mich wartete, das mich an der Hand nehmen würde, egal, was noch passieren würde. Ich stellte mir vor, dass es mich durch den dreiteiligen Spiegel, der inzwischen über dem Waschbecken in meinem Verlies hing, sehen könnte. Wenn ich nur lange genug hineinblickte, würde sich mein starkes Ich in meinem Gesicht spiegeln.
Das nächste Mal, das hatte ich mir fest vorgenommen, würde ich die ausgestreckte Hand nicht loslassen. Ich würde die Kraft haben, jemanden um Hilfe zu bitten.
Eines Morgens gab mir der Täter Jeans und ein T-Shirt. Er wollte, dass ich ihn in den Baumarkt begleite. Mein Mut sank bereits, als wir auf die Zufahrtsstraße nach Wien bogen. Wenn er diese Straße weiterfuhr, würden wir in meine alte Wohngegend kommen. Es war derselbe Weg, den ich am 2. März 1998 in umgekehrter Richtung zurückgelegt hatte - am Boden des Laderaums kauernd. Damals hatte ich Angst davor zu sterben. Jetzt war ich 17, saß auf dem Vordersitz und hatte Angst vor dem Leben.
Wir fuhren durch Süßenbrunn, ein paar Straßen vorbei am Haus meiner Großmutter. Mich überfiel eine tiefe Sehnsucht nach dem Mädchen, das hier die Wochenenden bei seiner Großmutter verbracht hatte. Es schien mir unwiederbringlich verloren, aus einem fernen Jahrhundert. Ich sah die vertrauten Gassen, die Häuser, die Pflastersteine, auf denen ich Himmel und Hölle gespielt hatte. Aber ich gehörte nicht mehr dazu.
»Senk den Blick«, herrschte mich Priklopil von der Seite an. Ich gehorchte sofort. Die Nähe zu den Orten meiner Kindheit schnürte mir den Hals zu, ich kämpfte mit den Tränen. Irgendwo da, rechts von uns, ging es in den Rennbahnweg. Irgendwo da rechts in der großen Siedlung saß vielleicht meine Mutter gerade am Küchentisch. Sie dachte inzwischen sicher, dass ich tot sei, dabei fuhr ich gerade einmal ein paar hundert Meter an ihr vorbei. Ich fühlte mich wie erschlagen und sehr viel weiter weg als die paar Straßen, die tatsächlich zwischen uns lagen.
Der Eindruck verstärkte sich noch, als der Täter auf den Parkplatz des Baumarktes einbog. Hunderte Male hat meine Mutter an dieser Ecke mit dem Auto an der roten Ampel gewartet, um rechts abzubiegen. Denn dort lag die Wohnung meiner Schwester. Heute weiß ich, dass Waltraud Priklopil, die Mutter des Täters, ebenfalls nur wenige Hundert Meter weiter wohnte.
Der Parkplatz des Baumarkts war voller Menschen. Ein paar hatten sich in eine Schlange vor einem Würstelstand am Eingang eingereiht. Andere schoben ihre vollen Einkaufswagen zum Auto. Arbeiter mit fleckigen blauen Hosen trugen Holzlatten über den Parkplatz. Meine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Ich starrte aus dem Fenster. Irgendeiner dieser vielen Menschen musste mich doch sehen, musste doch merken, dass hier etwas nicht stimmte. Der Täter schien meine Gedanken zu ahnen: »Du bleibst sitzen. Du steigst erst aus, wenn ich es dir sage. Und dann bleibst du dicht vor mir und gehst langsam zum Eingang. Ich will keinen Ton hören!«
Ich ging vor ihm in den Baumarkt hinein. Er dirigierte mich mit sanftem Druck, eine Hand auf meiner Schulter. Ich konnte seine Nervosität spüren, die Fasern seiner Finger zuckten.
Ich ließ meinen Blick durch den langen Gang vor mir schweifen. Männer in Arbeitskleidung standen vor den Regalen, in Gruppen oder allein, mit Listen in der Hand geschäftig in ihre Besorgungen vertieft. Wen von ihnen sollte ich ansprechen? Und was sollte ich überhaupt sagen? Ich musterte jeden, der im Gang stand, aus den Augenwinkeln. Doch je länger ich sie ansah, umso mehr verzerrten sich die Gesichter der Menschen zu Fratzen. Sie erschienen mir plötzlich feindselig und unfreundlich. Grobschlächtige Menschen, mit sich selbst beschäftigt und blind für ihre Umwelt. Meine Gedanken rasten. Es kam mir mit einem Mal völlig absurd vor, jemanden um Hilfe zu bitten. Wer würde mir schon glauben - einem mageren, verwirrten Teenager, der kaum seine eigene Stimme benutzen konnte? Was würde geschehen, wenn ich mich an einen dieser Männer wenden würde mit dem Satz: »Bitte helfen Sie mir?«
»Das hat meine Nichte öfter, die Ärmste, sie ist leider verwirrt - sie braucht ihre Medikamente«, würde Priklopil wohl sagen, und rundherum würde man verständnisvoll nicken, wenn er mich am Oberarm packen und aus dem Baumarkt zerren würde. Für einen Moment hätte ich in irrsinniges Gelächter ausbrechen können. Der Täter würde überhaupt niemanden umbringen müssen, um sein Verbrechen zu decken! Alles hier spielte ihm perfekt in die Hände. Niemand interessierte sich für mich. Niemand würde auf die Idee kommen, dass es die Wahrheit war, wenn ich sagte: »Helfen Sie mir, ich wurde entführt.« Versteckte Kamera, haha, gleich kommt der Moderator mit Pappnase hinter den Regalen hervor und löst die Sache auf. Oder eben der nette Onkel hinter dem komischen Mädchen. Stimmen schrillten wirr durch meinen Kopf: Ach Gott, der ist ja auch wirklich zu bedauern, ein Kreuz ist das mit so einer ... Aber nett, wie er sich um sie kümmert.
»Kann ich Ihnen helfen?« Der Satz donnerte wie Hohn in meinen Ohren. Ich brauchte einen Moment, bis ich realisierte, dass er nicht aus dem Stimmengewirr in meinem Kopf kam. Ein Verkäufer der Sanitärabteilung stand vor uns. »Kann ich Ihnen helfen?«, wiederholte er seine Frage. Sein Blick schweifte kurz über mich hinweg und blieb hinter mir am Täter hängen. Wie ahnungslos dieser freundliche Mann doch war! Ja, Sie können mir helfen! Bitte! Ich begann zu zittern, auf meinem T-Shirt bildeten sich Schweißflecken. Mir war schlecht, mein Gehirn gehorchte mir nicht mehr. Was hatte ich noch sagen wollen?
»Danke, wir kommen zurecht«, hörte ich eine Stimme hinter mir. Dann schraubte sich eine Hand um meinen Arm. Danke, wir kommen zurecht. Und falls wir uns nicht mehr sehen sollten: Guten Tag. Guten Abend. Gute Nacht. Wie in der Truman-Show.
Wie in Trance schleppte ich mich durch den Baumarkt. Vorbei, vorbei. Ich hatte meine Chance vertan - vielleicht hatte ich auch nie eine gehabt. Ich fühlte mich wie in einer durchsichtigen Blase gefangen, meine Arme und Beine strampeln, versinken in einer gallertartigen Masse, aber können die Haut nicht durchstoßen. Ich taumelte durch die Gänge und sah überall Menschen: Aber ich gehörte nicht länger zu ihnen. Ich hatte keine Rechte mehr. Ich war unsichtbar.
Nach diesem Erlebnis war mir klar, dass ich nicht um Hilfe bitten konnte. Was wussten die Menschen hier draußen schon von der abstrusen Welt, in der ich gefangen war - und wer war ich, dass ich sie da hineinziehen durfte? Was konnte dieser freundliche Verkäufer schon dafür, dass ich ausgerechnet in seinem Geschäft aufgetaucht war? Welches Recht hatte ich, ihn der Gefahr auszusetzen, dass Priklopil durchdrehte? Seine Stimme hatte zwar neutral geklungen und seine Nervosität nichts verraten. Doch ich hatte fast hören können, wie sein Herz in seinem Brustkorb raste. Dann sein Griff um meinen Arm, sein Blick, der mich auf unserem weiteren Weg durch den Baumarkt von hinten durchbohrte. Die Drohung, Amok zu laufen. Dazu meine eigene Schwäche, mein Unvermögen, mein Versagen.
In dieser Nacht lag ich lange wach. Ich musste an meinen Vertrag mit meinem zweiten Ich denken. Ich war 17, der Zeitpunkt, an dem ich diesen Vertrag hatte einlösen wollen, rückte immer näher. Der Vorfall im Baumarkt hatte mir gezeigt, dass ich es allein schaffen musste. Gleichzeitig spürte ich, dass meine Kraft schwand und ich immer tiefer in die paranoide, seltsame Welt rutschte, die der Täter für mich gebaut hatte. Aber wie sollte mein verzagtes, angstvolles Ich zu dem starken Ich werden, das mich an der Hand nehmen und aus dem Gefängnis führen würde? Ich wusste es nicht. Das Einzige, was ich wusste, war, dass ich unendlich viel Kraft und Selbstdisziplin brauchen würde. Woher auch immer ich sie nehmen sollte.
Was mir damals half, waren tatsächlich die Selbstgespräche mit meinem zweiten Ich und meine Notizen. Ich hatte eine zweite Serie von Zetteln begonnen; nun hielt ich nicht nur die Misshandlungen fest, sondern versuchte, mir schriftlich Mut zu machen. Durchhalteparolen, die ich hervorkramte, wenn ich am Boden war, und die ich mir dann laut vorlas. Manchmal war das eher wie das Pfeifen im dunklen Wald, aber es funktionierte.
Nicht unterkriegen lassen, wenn er sagt, du bist zu blöd für alles.
Nicht unterkriegen lassen, wenn er dich schlägt.
Nichts darauf geben, wenn er sagt, du bist unfähig.
Nichts darauf geben, wenn er sagt, du kannst ohne ihn nicht leben.
Nicht reagieren, wenn er dir das Licht abdreht.
Ihm alles verzeihen und nicht weiter böse sein.
Stärker sein.
Nicht aufgeben.
Niemals, niemals aufgeben.
Nicht unterkriegen lassen, niemals aufgeben. Aber das war einfacher gesagt als getan. So lange waren all meine Gedanken darauf konzentriert gewesen, aus diesem Keller, aus diesem Haus herauszukommen. Nun war das gelungen. Und nichts hatte sich geändert. Ich war draußen genauso gefangen wie drinnen. Die äußeren Mauern schienen durchlässiger geworden, meine innere war betoniert wie nie. Hinzu kam, dass unsere »Ausflüge« Wolfgang Priklopil an den Rand der Panik brachten. Hin- und hergerissen zwischen seinem Traum von einem normalen Leben und der Furcht davor, ich könne es durch einen Fluchtversuch oder mein Verhalten allgemein zerstören, wurde er immer fahriger und unkontrollierter. Auch wenn er mich sicher verwahrt im Haus wusste. Seine Wutausbrüche wurden häufiger, natürlich gab er mir die Schuld daran und verfiel in einen regelrechten paranoiden Wahn. Er ließ sich auch durch mein zaghaftes, ängstliches Verhalten in der Öffentlichkeit nicht beruhigen. Ich weiß nicht, ob er mir insgeheim unterstellte, ich würde ihm die Verunsicherung nur vorspielen. Wie unfähig ich zu einer solchen Inszenierung gewesen wäre, zeigte mir ein weiterer Ausflug nach Wien, der meine Gefangenschaft eigentlich hätte beenden müssen.
Wir fuhren gerade auf der Brünnerstraße, als der Verkehr ins Stocken geriet. Eine Polizeikontrolle. Ich sah den Wagen und die Uniformierten, die die Autos herauswinkten, schon von weitem. Priklopil sog scharf Luft ein. Er veränderte seine Sitzposition nicht um einen Millimeter, doch ich beobachtete, wie sich seine Hände um das Lenkrad krampften, bis die Fingerknöchel weiß hervortraten. Äußerlich war er ganz ruhig, als er den Wägen am Straßenrand stoppte und das Fenster öffnete. »Führerschein und Fahrzeugpapiere bitte!« Ich hob vorsichtig den Kopf. Das Gesicht des Polizisten wirkte überraschend jung, sein Ton war bestimmt, aber freundlich. Priklopil kramte nach den Papieren, während der Polizist ihn musterte. Sein Blick streifte mich nur kurz. In meinem Kopf formte sich ein Wort, das ich wie in einer großen Sprechblase in der Luft schweben sah: HILFE! Ich hatte es so deutlich vor Augen, dass ich gar nicht glauben konnte, dass der Polizist nicht sofort reagierte. Doch der nahm unbeeindruckt die Papiere entgegen und überprüfte sie.
Hilfe! Holen Sie mich hier raus! Sie kontrollieren einen Verbrecher! Ich blinzelte und rollte mit den Augen, als würde ich Morsezeichen geben. Es muss ausgesehen haben, als hätte ich irgendeinen Anfall. Dabei war es nichts als ein verzweifeltes SOS, gefunkt mit den Augenlidern eines mageren Teenagers, der auf dem Beifahrersitz eines weißen Kastenwagens hockte.
In meinem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander. Vielleicht könnte ich einfach aus dem Auto springen und losrennen? Ich könnte zum Streifenwagen laufen, er stand ja direkt vor meinen Augen. Aber was sollte ich sagen? Würde man mir zuhören? Was, wenn ich abgewiesen würde? Priklopil würde mich wieder einsammeln, sich wortreich für die Unannehmlichkeiten entschuldigen und dafür, dass seine gestörte Nichte den ganzen Betrieb aufhielt. Und außerdem: Ein Fluchtversuch - das war das schlimmste Tabu, das ich brechen konnte.
Wenn er scheiterte, mochte ich mir gar nicht ausmalen, was mir blühen würde. Doch was, wenn es funktionierte? Ich sah Priklopil vor mir, wie er das Gaspedal durchdrückt und mit quietschenden Reifen losrast. Dann gerät er ins Schleudern und auf die Gegenfahrbahn. Kreischende Bremsen, splitterndes Glas, Blut, Tod. Priklopil hängt reglos über dem Lenkrad, aus der Ferne nähern sich Sirenen.
»Danke, alles in Ordnung! Gute Fahrt!« Der Polizist lächelte kurz, dann reichte er Priklopil die Papiere durchs Fenster. Er hatte keine Ahnung, dass er das Auto angehalten hatte, in das vor fast acht Jahren ein kleines Mädchen gezerrt worden war. Er hatte keine Ahnung, dass dieses kleine Mädchen seit fast acht Jahren im Keller des Entführers gefangengehalten wurde. Er ahnte nicht, wie nahe er daran war, ein Verbrechen aufzudecken - und Zeuge einer Amokfahrt zu werden. Ein Wort von mir hätte genügt, ein mutiger Satz aus dem Auto. Stattdessen sank ich in meinem Sitz zusammen und schloss die Augen, während der Täter den Wagen anließ.
Ich hatte die wohl größte Chance verpasst, aus diesem Alptraum auszusteigen. Erst im Nachhinein fiel mir auf, dass mir eine Option damals überhaupt nicht in den Sinn gekommen war: den Polizisten einfach anzusprechen. Zu lähmend war meine Angst gewesen, Priklopil könne jedem etwas antun, zu dem ich in Kontakt trat.
Ich war eine Sklavin, eine Untergebene. Weniger wert als ein Haustier. Ich hatte keine Stimme mehr.
Während meiner Gefangenschaft hatte ich immer wieder davon geträumt, im Winter einmal Skilaufen zu gehen. Blauer Himmel, die Sonne auf dem glitzernden Schnee, der die Landschaft in ein unberührtes, flockiges Gewand hüllt. Das Knirsehen unter den Schuhen, die Kälte, die einem die Wangen ganz rot macht. Und hinterher ein warmer Kakao, wie früher, nach dem Eislaufen.
Priklopil war ein guter Skifahrer, der in den letzten Jahren meiner Gefangenschaft immer wieder Tagesausflüge in die Berge machte. Während ich seine Sachen packte und seine penibel zusammengestellten Listen durchging, war er schon ganz aufgeregt. Skiwachs. Handschuhe. Müsliriegel. Sonnencreme. Lippenbalsam. Mütze. Ich brannte jedes Mal vor Sehnsucht, wenn er mich in das Verlies sperrte und das Haus verließ, um in den Bergen in der Sonne über Schnee zu gleiten. Ich hätte mir nichts Schöneres vorstellen können.
Kurz vor meinem 18. Geburtstag sprach er häufiger davon, mich eines Tages zu einem solchen Skiausflug mitzunehmen. Das war für ihn der größte Schritt Richtung Normalität. Es mag sein, dass er mir damit auch einen Wunsch erfüllen wollte. Aber vor allem wollte er sich die Bestätigung holen, dass sein Verbrechen schlussendlich von Erfolg gekrönt war. Wenn ich ihm auch in den Bergen nicht von der Leine ging, hätte er in seinen Augen alles richtig gemacht.
Die Vorbereitungen nahmen einige Tage in Anspruch. Der Täter ging seine alten Skisachen durch und legte mir verschiedene Teile zum Anprobieren vor. Einer der Anoraks passte, ein flauschiges Ding aus den Siebzigerjahren. Doch eine Skihose fehlte. »Ich kauf dir eine«, versprach der Täter. »Wir gehen gemeinsam einkaufen.« Er klang aufgeregt und schien für einen Moment glücklich.
Am Tag, als wir ins Donauzentrum fuhren, lief mein Kreislauf aufSparflamme. Ich war schwer unterernährt und konnte mich kaum auf den Beinen halten, als ich ins Auto stieg. Es war ein eigenartiges Gefühl, das Einkaufszentrum zu besuchen, durch das ich früher oft mit meinen Eltern geschlendert war. Es liegt heute nur zwei U-Bahn-Stationen vom Rennbahnweg entfernt, damals waren es ein paar Stationen mit dem Bus. Der Täter fühlte sich offenbar sehr, sehr sicher.
Das Donauzentrum ist ein typisches Vorstadt-Einkaufszentrum. Auf zwei Etagen reihen sich Geschäfte aneinander, es riecht nach Popcorn und Pommes frites, die Musik ist viel zu laut und übertönt doch kaum das Stimmengewirr der zahllosen Jugendlichen, die sich mangels anderer Treffpunkte vor den Geschäften sammeln. Selbst Menschen, die solche Massenaufläufe gewohnt sind, fühlen sich hier schnell überfordert und sehnen sich nach einem Moment der Ruhe und frischer Luft. Auf mich wirkten der Lärm, das Licht und die vielen Menschen wie eine Wand, wie ein undurchdringliches Dickicht, in dem ich mich nicht orientieren konnte. Mühsam versuchte ich, mich zu erinnern. War das nicht das Geschäft, in dem ich mit meiner Mutter ...? Für einen flüchtigen Moment sah ich mich als kleines Mädchen eine Strumpfhose aussuchen. Doch die Bilder der Gegenwart schoben sich darüber. Überall waren Menschen: Jugendliche, Erwachsene mit großen, bunten Tüten, Mütter mit Kinderwagen, ein einziges Durcheinander. Der Täter dirigierte mich in ein großes Bekleidungsgeschäft. Ein Labyrinth, voll mit Kleiderständern, Wühltischen und Schaufensterpuppen, die mit ausdruckslosem Lächeln die Wintermode der Saison präsentierten.
Die Hosen in der Erwachsenenabteilung passten mir nicht. Während mir Priklopil eine nach der anderen in die Umkleide reichte, blickte mich aus dem großen Spiegel eine traurige Gestalt an. Ich war kreidebleich, die blonden Haare standen mir wirr vom Kopf, und ich war so abgemagert, dass selbst XS an mir herumschlotterte. Das ständige An- und Ausziehen war so eine Tortur für mich, dass ich mich weigerte, das Ganze in der Kinderabteilung zu wiederholen. Der Täter musste mir die Skihose vor den Körper halten, um die Größe zu überprüfen. Als er endlich zufrieden war, konnte ich kaum mehr stehen.
Ich war heilfroh, als ich wieder im Auto saß. Auf der Fahrt zurück nach Strasshof zersprang mir fast der Kopf. Ich war nach fast acht Jahren Isolation nicht mehr fähig, so viele Eindrücke zu verarbeiten.
Auch die weiteren Vorbereitungen für den Skiausflug dämpften meine Freude. Über allem hing eine Atmosphäre sirrender Anspannung. Der Täter war unruhig und gereizt, machte mir Vorhaltungen über die Kosten, die ich schon wieder verursachte. Mit der Landkarte ließ er mich die genaue Kilometerzahl bis zum Skigebiet ermitteln und ausrechnen, wie viel Benzin für die Strecke notwendig war. Dazu noch die Liftkarte, Leihgebühren, vielleicht etwas zu essen - in seinem krankhaften Geiz waren das Unsummen, die er verschleuderte. Und wofür das alles? Dafür, dass ich ihm womöglich auf der Nase herumtanzte, sein Vertrauen missbrauchte.
Als seine Faust neben mir auf die Tischplatte krachte, Heß ich vor Schreck den Stift fallen. »Du nutzt meine Gutmütigkeit nur aus! Du bist ein Nichts ohne mich, ein Nichts!«
Nichts daraufgeben, wenn er sagt, du kannst ohne ihn nicht leben. Ich hob den Kopf und sah ihn an. Und war überrascht, auf seinem verzerrten Gesicht einen Anflug von Angst zu sehen. Dieser Skiausflug war ein enormes Risiko. Ein Risiko, das er nicht etwa einging, um mir einen langgehegten Wunsch zu erfüllen. Es war eine Inszenierung nur für ihn, die das Ausleben seiner Phantasien ermöglichen sollte. Wie er mit seiner »Partnerin« die Hänge hinabgleitet, wie sie ihn bewundert, weil er so gut Ski läuft. Die perfekte Fassade, ein Selbstbild, genährt von Erniedrigung und Unterdrückung, von der Zerstörung meines Ich.
Ich verlor jede Lust, in diesem absurden Theaterstück mitzuspielen. Auf dem Weg in die Garage eröffnete ich ihm, dass ich hierbleiben wolle. Ich sah, wie sich seine Augen verdunkelten, dann explodierte er. »Was fällt dir ein!«, brüllte er mich an, dann hob er den Arm. Er hielt die Eisenstange in der Hand, mit der er den Zugang zu meinem Verlies aufhebelte. Ich holte tief Luft, schloss die Augen und versuchte, mich innerlich zurückzuziehen. Die Eisenstange traf mich mit voller Wucht in den Oberschenkel. Die Haut platzte sofort auf.
Als wir am nächsten Tag auf die Autobahn fuhren, war er völlig aufgekratzt. Ich hingegen fühlte mich nur noch leer. Um mich zu disziplinieren, hatte er mich wieder hungern lassen und mir den Strom abgedreht. Mein Bein brannte. Aber nun war ich ja wieder gut, alles ist gut, wir fahren in die Berge. In meinem Kopf brüllten Stimmen durcheinander.
Du musst irgendwie an den Müsliriegel in der Skijacke kommen!
In seiner Tasche ist auch noch etwas zu essen!
Dazwischen, ganz leise, sagte eine kleine Stimme: Du musst fliehen. Diesmal musst du es schaffen.
Wir verließen die Autobahn bei Ybbs. Langsam tauchten vor uns die Berge aus dem Dunst auf. In Göstling hielten wir bei einem Skiverleih. Der Täter hatte vor diesem Schritt besonders große Angst. Immerhin musste er mit mir in ein Geschäft gehen, in dem ein Kontakt mit den Angestellten unvermeidbar war. Sie würden mich fragen, ob der Skischuh passt, und ich würde auf diese Frage antworten müssen.
Bevor wir ausstiegen, schärfte er mir mit besonderem Nachdruck ein, dass er jeden umbringen würde, den ich um Hilfe bitten würde - und mich dazu.
Als ich die Autotür öffnete, überfiel mich ein Gefühl der Fremdheit. Die Luft war kalt und würzig und roch nach Schnee. Die Häuser duckten sich am Fluss entlang und wirkten mit ihren Schneehauben auf den Dächern wie Kuchenstücke mit Schlagobers. Links und rechts stiegen Berge in die Höhe. Wäre der Himmel grün gewesen, es hätte mich kaum gewundert, so surreal wirkte die ganze Szenerie auf mich.
Als Priklopil mich durch die Tür zum Skiverleih schob, schlug mir die warme, feuchte Luft ins Gesicht. Schwitzende Menschen in Daunenjacken standen an der Kasse, erwartungsfrohe Gesichter, Gelächter, dazwischen das Klacken der Schnallen beim Anprobieren der Skischuhe. Ein Verkäufer kam auf uns zu. Braungebrannt und jovial, ein Skilehrertyp mit rauer, lauter Stimme, der seine Scherze routiniert abspulte. Er brachte mir ein Paar Skischuhe Größe 37 und ging vor mir in die Knie, um die Passform zu überprüfen. Priklopil ließ mich nicht aus den Augen, als ich dem Verkäufer bestätigte, dass nichts drückte. Ich hätte mir keinen unpassenderen Ort vorstellen können, um auf ein Verbrechen hinzuweisen, als dieses Geschäft. Alles locker, alles großartig, alles fröhliche Effizienz und Routine in Sachen Freizeitspaß. Ich sagte nichts.
»Wir können nicht mit dem Lift fahren, das ist zu gefährlich. Du könntest jemanden ansprechen«, sagte der Täter, als wir nach einer langen, kurvigen Straße auf dem Parkplatz des Skigebiets Hochkar eintrafen. »Wir fahren direkt ins Gelände.«
Wir parkten etwas abseits. Links und rechts stiegen die verschneiten Hänge stark an. Weiter vorne war ein Sessellift zu sehen. Leise hörte man die Musik der Bar an der Talstation. Das Hochkar ist eines der wenigen Skigebiete, die von Wien aus leicht erreichbar sind. Es ist klein, sechs Sessellifte und ein paar kurze Schlepplifte bringen die Skifahrer hinauf auf die drei Gipfel. Die Pisten sind schmal, gleich vier davon sind als »schwarz« gekennzeichnet, die schwierigste Kategorie.
Ich versuchte krampfhaft, mich zu entsinnen. Mit vier Jahren war ich schon einmal mit meiner Mutter und einer befreundeten Familie hier gewesen. Aber nichts erinnerte an das kleine Mädchen, das damals in einem dicken rosa Skianzug durch den Tiefschnee gestapft war.
Priklopil half mir, die Skischuhe anzuziehen und in die Bindung zu steigen. Unsicher rutschte ich auf den Brettern über den glatten Schnee. Er zog mich über die Schneehaufen am Straßenrand und schubste mich über die Kante direkt auf den Hang. Er kam mir mörderisch steil vor, und ich erschrak vor der Geschwindigkeit, mit der es abwärts ging. Skier und Schuhe wogen vermutlich mehr als meine Beine. Ich hatte nicht die nötigen Muskeln, um sie zu lenken, und wohl schon vergessen, wie man das überhaupt machte. Der einzige Skikurs, den ich in meinem Leben besucht hatte, war zu meiner Zeit im Hort gewesen. Eine Woche, die wir in einem Jugendhotel in Bad Aussee verbracht hatten. Ich war ängstlich gewesen, hatte gar nicht erst mitfahren wollen, so lebendig war die Erinnerung an meinen gebrochenen Arm. Aber die Skilehrerin war nett und freute sich mit mir über jeden gelungenen Schwung. Ich machte Fortschritte und fuhr am letzten Tag des Kurses sogar beim großen Rennen auf dem Übungshang mit. Im Ziel riss ich die Arme hoch und jubelte. Dann ließ ich mich rückwärts in den Schnee fallen. So frei und stolz auf mich selbst hatte ich mich lange nicht mehr gefühlt.
Stolz und frei - ein Leben, das Lichtjahre entfernt war.
Ich versuchte verzweifelt zu bremsen. Doch schon beim ersten Versuch verkantete ich und kippte in den Schnee. »Wie stellst du dich nur an«, schimpfte Priklopil, als er neben mir hielt und mir beim Aufstehen half. »Du musst Bogen fahren! So!«
Es dauerte eine ganze Weile, bis ich mich halbwegs auf den Skiern halten konnte und wir ein paar Meter vorankamen. Meine Hilflosigkeit und Schwäche schienen den Täter so zu beruhigen, dass er beschloss, doch eine Liftkarte für uns zu kaufen. Wir reihten uns ein in die lange Schlange lachender, drängelnder Skiläufer, die es gar nicht erwarten konnten, bis der Lift sie am nächsten Gipfel wieder ausspuckte. Ich fühlte mich inmitten all dieser Menschen in ihren bunten Skianzügen wie ein Wesen von einem anderen Stern. Ich zuckte zurück, wenn sie sich ganz nah an mir vorbeischoben und mich dabei berührten. Ich zuckte zurück, wenn sich Stöcke und Skier verhakten, ich plötzlich eingekeilt war zwischen lauter Fremden, die mich vermutlich gar nicht wahrnahmen, deren Blicke ich aber zu spüren glaubte. Du gehörst nicht hierher. Das ist nicht dein Platz. Priklopil schob mich von hinten an. »Schlaf nicht ein, weiter, weiter.«
Nach einer gefühlten Ewigkeit saßen wir endlich im Lift. Ich schwebte durch die winterliche Berglandschaft - ein Moment der Ruhe und Stille, den ich zu genießen versuchte. Aber mein ganzer Körper rebellierte gegen die ungewohnte Anstrengung. Meine Beine zitterten, und ich fror erbärmlich. Als der Sessellift in die Bergstation einfuhr, verfiel ich in Panik. Ich wusste nicht, wie man absprang, und verhakte mich vor lauter Aufregung mit meinen Stöcken. Priklopil schimpfte, packte mich im letzten Augenblick am Arm und zog mich aus dem Lift.
Nach einigen Abfahrten kehrte langsam ein Rest von Selbstsicherheit zurück. Ich konnte mich nun so lange aufrecht halten, dass ich die kurzen Fahrten genießen konnte, bevor ich wieder in den Schnee fiel. Ich fühlte, wie meine Lebensgeister zurückkehrten und ich das erste Mal seit langem so etwas wie Glück verspürte. Sooft es ging, blieb ich stehen, um mir das Panorama anzusehen. Wolfgang Priklopil, der stolz auf seine Ortskenntnis war, erklärte mir die Berge rundum. Vom Hochkar-Gipfel konnte man auf den massiven Ötscher hinübersehen, dahinter verschwand Bergkette um Bergkette im Dunst. »Das ist schon die Steiermark«, dozierte er. »Und dort, auf der anderen Seite, kann man fast bis nach Tschechien sehen.« Der Schnee glitzerte in der Sonne, der Himmel war tiefblau. Ich atmete tief ein und wollte am liebsten die Zeit anhalten. Doch der Täter drängte zur Eile: »Dieser Tag hat mich ein Heidengeld gekostet, jetzt müssen wir das auch ausnützen!«
»Ich muss aufs Klo!« Priklopil blickte mich verärgert an. »Ich muss wirklich!« Es blieb ihm nichts anderes übrig, als mit mir zur nächsten Hütte zu fahren. Er entschied sich für die Talstation, weil dort die Toiletten in einem separaten Anbau untergebracht waren und wir so nicht durch eine Gaststube mussten. Wir schnallten die Skier ab, der Täter führte mich bis vor die Toiletten und zischte mir zu, ich solle mich beeilen. Er würde warten und dabei ganz genau auf die Uhr sehen. Im ersten Moment wunderte ich mich, dass er mir nicht folgte. Er hätte ja immer noch sagen können, er habe sich in der Tür geirrt. Aber er blieb draußen.
Die Toilette war leer, als ich sie betrat. Doch als ich in der Kabine war, hörte ich, wie sich eine Tür öffnete. Ich erschrak - ich war sicher, dass ich zu lange gebraucht hatte und der Täter in die Damentoilette gekommen war, um mich zu holen. Aber als ich hastig zurück in den kleinen Vorraum trat, stand dort eine blonde Frau vor dem Spiegel. Ich war zum ersten Mal seit Beginn meiner Gefangenschaft mit einem anderen Menschen allein.
Ich weiß nicht mehr genau, was ich gesagt habe. Ich weiß nur noch, dass ich all meinen Mut zusammennahm und sie ansprach. Aber alles, was aus meinem Mund herauskam, war ein leises Piepsen.
Die blonde Frau lächelte mich freundlich an, drehte sich um - und ging. Sie hatte mich nicht verstanden. Zum ersten Mal hatte ich jemanden angesprochen, und es war wie in meinen schlimmsten Alpträumen: Man hörte mich nicht. Ich war unsichtbar. Ich durfte nicht auf Hilfe hoffen.
Erst nach meiner Befreiung habe ich erfahren, dass die Frau eine Touristin aus Holland war und schlicht nicht verstanden hatte, was ich von ihr wollte. Damals aber traf mich ihre Reaktion wie ein Schlag.
Der Rest des Skiausflugs verschwimmt in meiner Erinnerung. Ich hatte wieder eine Chance verpasst. Als ich am Abend in mein Verlies gesperrt wurde, war ich verzweifelt wie lange nicht mehr.
Wenig später nahte der entscheidende Tag: mein 18. Geburtstag. Es war das Datum, auf das ich schon seit zehn Jahren hinfieberte, und ich war fest entschlossen, diesen Tag gebührend zu feiern - auch wenn es in Gefangenschaft geschehen musste.
In den Jahren davor hatte mir der Täter erlaubt, einen Kuchen zu backen. Diesmal aber wollte ich etwas Besonderes. Ich wusste, dass Priklopils Geschäftspartner in einer einsam gelegenen Lagerhalle Feste ausrichtete. Der Täter hatte mir Videos gezeigt, auf denen türkische und serbische Hochzeiten zu sehen waren. Er wollte daraus einen Werbefilm schneiden, um den Veranstaltungsort zu promoten. Ich hatte die Bilder der feiernden Menschen, die in seltsamen Tänzen Hand in Hand im Kreis hüpften, gierig aufgesogen. Bei einem Fest lag ein ganzer Haifisch auf dem Buffet, bei anderen reihte sich Schüssel an Schüssel voll unbekannter Speisen. Am meisten hatten mich aber die Torten fasziniert. Mehrstöckige Kunstwerke mit Blumen aus Marzipan oder ein nachgebildetes Auto aus Biskuit und Creme. So eine Torte wollte ich haben - in Form einer 18, dem Symbol meiner Volljährigkeit.
Als ich am Morgen des 17. Februar 2006 nach oben ins Haus kam, stand sie tatsächlich auf dem Küchentisch: eine Eins und eine Acht aus luftigem Biskuitteig, überzogen mit einem zuckrigen, rosa Schaum und dekoriert mit Kerzen. Ich weiß nicht mehr, welche Geschenke ich damals noch bekam, es gab sicher noch einige, denn Priklopil liebte es, solche Feste zu zelebrieren. Für mich aber stand diese 18 im Zentrum meiner kleinen Feier. Sie war das Zeichen der Freiheit. Sie war das Symbol, das Zeichen dafür, dass es an der Zeit war, mein Versprechen einzulösen.